Annelies
Meine Kindheit und Jugend
Mein Name ist Annelies (Alias-Name) und ich lebte als Kind in einer Großstadt, mitten im Zentrum. Schon in jungen Jahren habe ich gespürt, dass ich anders bin. Spielten die Kinder in meiner Umgebung laut, fröhlich und unbeschwert miteinander, zog ich mich zurück oder beobachtete aus „sicherer“ Entfernung das Spiel und Treiben anderer Kinder. Es war mir schlicht zu laut und zu viel. Ich konnte mich nicht auf alle im Spiel beteiligten Kinder einlassen. Lediglich in kleineren Spielgruppen, so in überschaubaren Zweiergruppen, und in Folge mit gemäßigter Lautstärke wollte ich mitspielen, ohne dass ich mich genervt fühlte. Ich begann schon zeitig gleichgesinnte Kinder zu suchen, mit denen ein Spiel, ob im Freien oder in Räumen, nicht in ein Toben oder Umhertollen ausartete. So fand ich zwar meist nur ein paar wenige Spielfreunde, dafür konnte ich mich jedoch sehr intensiv mit ihnen beschäftigen. Für andere Kinder blieb ich in gewisser Weise ein Außenseiter und wurde auch so manches Mal gehänselt oder ignoriert.
Ich kann mich erinnern, dass ich als 3 bis 4-Jährige auf einer Betriebsweihnachtsfeier meines Vaters in einem Schneeflöckchenkostüm ein Gedicht aufsagen sollte. Das Kostüm kratzte am Hals und an den Armen, die Watteflöckchen kitzelten auf dem Kopf und die Erwartungshaltung der vielen Menschen mit „Saalstimmung“ überforderte mich total. Ich wurde gedrängt, geschubst, angefasst, weil ich doch so niedlich anzuschauen war. Mir waren der Trubel und die Aufmerksamkeit zu viel, so dass ich überempfindlich reagierte und vor allen Anwesenden weinte. Von allen Seiten kam die Aufforderung: >> Nun stell dich doch nicht so an. << Die Enttäuschung war groß und mein Vater schämte sich letztlich für mich.
Mein Elternhaus, insbesondere die Beziehung meiner Eltern untereinander wie auch zu uns Kindern, habe ich während meiner gesamten Kinder- und Jugendzeit als sehr kompliziert erlebt. Meine Eltern stritten oft laut und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. So wurden heftig Türen geschlagen, Gegenstände zu Boden geworfen oder ein Elternteil verließ derb schimpfend und mit theatralischem Abgang abrupt für Stunden das Haus. Als ältere Tochter blieb ich mit meinem jüngeren Geschwisterkind zurück, ohne verstehen zu können, was da passiert. Wir wurden von den Eltern mit Härte und Nachdruck zum Stillschweigen beauftragt. Intuitiv suchte ich nach Möglichkeiten der Abgrenzung und des Rückzuges. Ich spielte zwar Szenen des Familienlebens mit meinen Puppen und Teddys nach, allerdings in ruhiger Atmosphäre und mit gutem Ausgang. Da oftmals kein Ende des häuslichen Chaos in Aussicht war, versteckte ich mich auch unter Decken und Kissen, die ich als eine Art „sicheren Ort“ um einen Tisch dekorierte. In Dunkelheit und mit gedämpfter Lautstärke beobachtete ich das Geschehen, ohne mittendrin sein zu müssen. Ich bemerkte, dass ich in der Lage war, kleinste Veränderungen der Gefühlslagen meiner Eltern in der häuslichen Situation im Vorfeld erspüren zu können, so dass ich mich bei geringsten Anzeichen vor möglichen Eskalationen schützen konnte. Betrat beispielsweise mein Vater nach der Arbeit die Wohnung und begegnete meiner Mutter, war für mich nach gefühlten Sekunden schon klar, wie der weitere Ablauf von statten gehen würde. Selbst bei gedämpften Gesprächen meiner Eltern konnte ich zwischen ihren Worten etwaige Unstimmigkeiten erkennen. Oft bezog ich ihre geäußerten Vorwürfe und Unzufriedenheit auf mich. Ich war der Überzeugung, dass sich die gesamte häuslich-familiäre Situation wesentlich verbessern könnte, würde ich mir nur mehr Mühe in meinem Verhalten geben. So nahm ich mir die Dinge zu Herzen, grübelte viel und konnte schlecht einschlafen.
Aufgrund der sich wiederholenden Differenzen meiner Eltern, verfolgte mein Vater seine weitere berufliche Karriere in längerfristigen Auslandsaufenthalten. Dadurch blieb meine Mutter mit uns Kindern in der Häuslichkeit allein zurück und stieß an ihre Belastungsgrenze. Sie versuchte ihr Unvermögen zu kompensieren, indem sie mich als Partnerersatz in jegliche Problematiken einbezog. So wurde ich im Alter von 7 Jahren für meine Mutter „Partner/Mann“, „Freundin“, „Haushaltshilfe“, „Kinderbetreuerin“ und „Seelsorgerin“ in einer Person. Erledigte ich die mir übertragenen Aufgaben und Rollen nicht zu ihrer Zufriedenheit, reagierte sie mit Unverständnis, Wut und Frustration. Sie beschimpfte oder misshandelte mich und gab mir zu verstehen, dass ich nicht ihr perfektes Kind/Partner war. Ihre Enttäuschung ließ sie mich in Worten und Taten wissen und oft verstieß sie mich auch aus dem häuslichen Bereich. In Folge gab ich mir noch mehr Mühe, mich ihren Bedürfnissen anzupassen, denn ich wollte meiner Mutter gefallen.
Durch diese Anstrengungen bekam ich körperliche und seelische Probleme. So fing ich bei Stress an, auf einem Auge zu schielen oder bekam plötzlich starke Kopf- oder Zahnschmerzen. Wurde mir letztlich „alles“ zu viel, blendete ich mich aus. Ich saß im Zimmer, starrte nur noch vor mich hin und bekam vom Geschehen der Umgebung nicht mehr viel mit. Ich habe diese Zeit als schwierig in Erinnerung, da ich weder wusste, was konkret von mir erwartet wurde, noch was mit mir los war.
In meiner Schulzeit habe ich aufgrund meiner Erfahrungen zu Hause meine Bedürfnisse, Stimmungen und Befindlichkeiten zurückgestellt, um mich „normgerecht“ zu verhalten und somit nicht „aus der Rolle“ zu fallen. Die schulischen Anforderungen fielen mir leicht, ich hatte keine Auffassungs- und/oder Lernprobleme. Schwierig waren für mich die enorme Lautstärke bei ca. 30 Kindern, die ständige Orientierung nach dem Stundenplan (Raumwechsel) und das für mich als oftmals grob empfundene Verhalten mancher Mitschüler im Unterricht oder in den Pausen. Ich konzentrierte mich auf leistungsschwächere und ruhigere Mitschüler, denen ich mich am Nachmittag in einer Zweierbeziehung widmete. Ich galt als „Streberin“. Um dem entgegen wirken zu können, betätigte ich mich einige Jahre als Pionierbrigadeführerin wie auch später als Klassenclown. Letzteres brachte mir viele Stunden im Gang vor der Klassenzimmertür ein, aber eben auch Akzeptanz, Respekt und Achtung meiner Mitschüler. Ich war dankbar, denn nun war ich endlich „eine von ihnen“. Meine Mitschüler entdeckten meine Wandlungsfähigkeit und Loyalität, den Klassenverband, Freundschaften oder Aufgabenstellungen betreffend.
An meinem Leidensdruck im elterlich-häuslichen Bereich änderte sich bis zum Abschluss meiner Schulausbildung nichts. Ich galt als schwierig, äußerst sensibel und nach Meinung meiner Eltern für den Familienverband nicht verträglich. Bis zu meinem 10. Lebensjahr litt ich an schweren Schlafstörungen mit Albträumen und Bettnässen. Die ständigen Auseinandersetzungen mit meinen Eltern setzten mir zu. Das Dilemma bestand darin, dass ich in der Schule mittlerweile eine gern gesehene und akzeptierte Mitschülerin war, jedoch zu Hause „das schwarze Schaf“ der Familie blieb. Meine „Fähigkeiten“, hinter gesprochene Worte und Körpersprache sehen zu können und meine hohe Intensität des Empfindens von Stimmungen wurden mir im häuslichen Bereich immer mehr zur Last. Wenn ich Schwierigkeiten im Familiengefüge erkannte, gaben mir meine Eltern nach Äußerung meiner Wahrnehmungen fast immer zu verstehen, dass ich spinne, mir das nur einbilde oder es nicht so sei.
Mein Beruf und meine Partnerschaft(en)
Als die Berufsauswahl anstand, bestand mein Wunsch darin, anderen helfen zu wollen. Ich wusste, wie es sich anfühlte, nicht verstanden und abgelehnt zu werden. Mit einer Verpflichtung, drei Jahre nach Berufsabschluss in einem Heim für schwerstbehinderte Kinder und Jugendliche zu arbeiten, begann ich ein Fachschulstudium als Kinderkrankenschwester.
In der praktischen Berufsausbildung musste ich u.a. ärztliche Eingriffe an Kleinkindern begleiten. Zwei Begebenheiten sind mir in Erinnerung geblieben, die auch in Folge meinen weiteren Berufsweg beeinflussten. Zum einen stand eine Rückenmarkspunktion bei einem ca. 2-jährigen Kind an, der ich assistieren sollte. Das Kind saß mit gebeugtem Rücken auf einer Untersuchungsliege und umklammerte mit beiden Armen meinen Körper. Vor Angst weinend lag der Kopf des Kindes an meinem Bauch. Ich umarmte das Kind und versuchte es zu beruhigen. Als der Eingriff begann, fing das Kind an zu schreien. Schmerz und Not des Kindes übertrug sich auf mich. Ohne das Kind loszulassen, fiel ich ohnmächtig zu Boden. Die anwesenden Ärzte bescheinigten mir zwar ihr Mitgefühl, jedoch auch ihre Einschätzung, dass ich aufgrund meines überhöht empathischen Verhaltens kaum die notwendige professionelle Distanz in diesem Beruf erreichen würde. Zum anderen sollte ich einem Neugeborenen mit Behinderung das Fläschchen geben. Durch die körperliche Beeinträchtigung des Babys verschluckte es sich bei jedem Saugen. Die leitende Schwester nahm mich beiseite und gab mir mit den Worten „das erledigt sich manchmal von selbst,“ zu verstehen, hier sollte man aufgrund der schweren Behinderung des Kindes einfach mal abwarten. Das Baby erstickte an der Flaschennahrung und verstarb. Ich hatte monatelang Albträume, da ich dieses Erlebnis nicht verarbeiten konnte bzw. mich immer wieder fragte, ob nicht alles meine Schuld gewesen sei.
Da ich häufig mit den wenig einfühlsamen Arbeitsweisen der Klinikmitarbeiter in Berührung kam, stand für mich bereits im Alter von 19 Jahren fest, dass ich trotz Ausbildung, niemals den Beruf einer Kinderkrankenschwester im stationären Bereich ausüben kann. Im Heim für schwerstbehinderte Kinder und Jugendliche fand ich meinen Platz und meine Aufgabe, da ich durch mein Einfühlungsvermögen gerade diesen Kindern helfen konnte, die sich verbal nicht verständlich machen konnten. Ich konzentrierte mich auf nonverbale Zeichen und Reaktionen und war somit in gewisser Weise in meinem „Element“.
In meiner Ausbildungszeit lernte ich meinen ersten Freund kennen. Er war hochintelligent und Medizinstudent in den letzten Semestern. Trotz meiner ausgeprägten Wahrnehmungsfähigkeit vermochte ich zu Beginn der Partnerschaft nicht seine psychische Instabilität und sein manipulatives Wesen erkennen. Er nutzte meine Empfindsamkeit und mein Harmoniebedürfnis für seine Bedürfnisse. So kam ich aus dem Elternhaus vom Regen in die Traufe. Es war eine schwere Zeit, die von Gewalt, Missbrauch und Misshandlungen geprägt war, wie in meiner Kindheit und Jugend. Nichts desto trotz konnte ich aufgrund meiner feinen und detailgerechten Wahrnehmung viele vielleicht noch schwerwiegendere Eskalationen vermeiden. Ich war mittlerweile in der Lage, „mit seinen Augen“ sehen zu können, d.h. kam er nach Hause, wusste ich, wie er sich fühlte oder nach welchem Fehlverhalten er bei mir suchen würde. Das brachte mir den Vorteil, dass ich mich gezielt auf seine Erwartungen und sein Verhalten vorbereiten konnte. Letztlich hat mir das mein Leben und das meines Sohnes gerettet. Warum und wie ich das geschafft habe, war mir zu dieser Zeit noch nicht klar. Meinem ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn konnte jedoch damals nicht abgeholfen werden, denn beim Betracht ziehen einer Anzeige gegen ihn wäre auch mein Schicksal besiegelt worden. Er gab mir unmissverständlich zu verstehen, dass er mich und unseren Sohn umbringen werde, sollte ich sein Leben und seine Karriere als Arzt „ruinieren“.
Nach Trennung und Scheidung führte ich zunächst ein Leben in etwas ruhigeren Bahnen. Um die Verarbeitung meiner bisherigen Erlebnisse kümmerte ich mich nicht. Nach kurzer Zeit geriet ich jedoch zunehmend mehr in einen völlig überforderten und hilflosen Zustand, der in einem Suizidversuch endete. Ein Psychiater meinte zu mir, ich sei zu empfindlich, denn das, was ich erleben musste, sei zwar schlimm, aber nichts Außergewöhnliches. In der darauffolgenden Zeit „stürzte“ ich mich deshalb in berufliche Herausforderungen, in Liebschaften und in Ablenkungen jeder Art.
Nach Kennenlernen meines zweiten Mannes kauften wir ein altes Haus mit Grundstück, so dass ich froh war, mich einem neuen Projekt voll und ganz widmen zu können. Mit aller Kraft und jeder Menge Optimismus bauten wir das Haus neben unserer Berufstätigkeit und unserem Familienleben zweimal umfassend um und aus. Meine eigene Empfindsam- und Belastbarkeit wurde hierbei oft auf die Probe gestellt. Nach Geburt meiner Tochter musste sie selbst als Baby mit auf die Baustelle, im Krabbelgitter neben der Kreissäge. Solche und ähnliche Situationen waren sowohl für mich als auch für sie eine unerträgliche Tortur. Nur einer Freundin ist es zu verdanken gewesen, dass sie unsere Kinder manchmal aus dem „Chaos“ genommen hatte.
In meinen 12 Jahren Berufstätigkeit im Kinderheim nahm ich meine persönlichen „Besonderheiten“ zum ersten Mal als Gabe wahr. Mitarbeiter, mit denen ich in den Schichtdiensten zu tun hatte, machten mich wiederholt darauf aufmerksam, dass manche Kinder trotz ihrer schweren Behinderung bei meiner Anwesenheit erkennbar positiv reagierten. So gaben sie unverhofft Laute, die entweder Wohlbefinden oder Schmerzen bekundeten und lächelten bei Zuwendung. Ich wollte mehr, als nur meine Arbeit zu verrichten. So begann ich, meine Kinder wie auch meinen Mann an den Wochenenddiensten mit in meine Arbeit einzubeziehen, um ihnen verständlich zu machen, dass Gesundheit und ein stabiles Familienleben nicht selbstverständlich sind. Meine Kinder zeigten kaum Berührungsängste, denn ich beobachtete, wie wert- und vorurteilsfrei die gegenseitige Kontaktaufnahme verlief.
Obwohl ich mich in meiner Tätigkeit wohl fühlte, belasteten mich die kaum behinderungsgerechte Einrichtung und die einzelnen, schweren Beeinträchtigungen meiner jungen Patienten. Aus diesem Grund wünschte ich eine neue berufliche Herausforderung und erhielt nach der Wende eine neugeschaffene Stelle im sozialen Bereich als Beraterin und Betreuerin für erwachsene Menschen in schwierigen Gesundheits- und Lebenslagen. Durch den gesellschaftlichen Wandel gab es kaum Erfahrungen auf diesem speziellen Gebiet, insbesondere nicht im Umgang mit psychisch erkrankten Menschen im häuslichen Bereich oder existenziell bedrohten Lebenssituationen.
Durch meine bisherigen Erfahrungen hatte ich kaum Schwierigkeiten, mich in problematische Lebens- und Sichtweisen einfühlen zu können, ohne zu bevormunden oder zu bewerten. Da es in der Hauptsache um die höchstpersönlichen Belange dieser Menschen ging, die es zu klären und zu lösen galt, kamen mir meine empathischen und loyalen Eigenschaften zugute. Die betreffenden Menschen zeigten mir trotz ihrer Problematik, ihrer Beschämung oder ihrer zunächst skeptischen Haltung einer behördlichen Hilfestellung gegenüber, schnell Offenheit, Vertrauen und Dankbarkeit in der gemeinsamen Arbeit. Zur Sicherung meiner Belastungsgrenze und professionellen Distanz nahm ich Angebote der Supervision wahr. In der gemeinsamen Supervisionsarbeit wurde erstmals auch meine eigene traumatische Vergangenheit angesprochen, die ich bisher verdrängt hatte.
Mir ist aus den Sitzungen mit meinem Supervisor, ich nenne ihn Walter, sehr eindrucksvoll folgender Dialog in Erinnerung geblieben.
>> Annelies, wenn du aus deinem Leben erzählst, lächelst du zwar, aber hast dabei Tränen in den Augen. Merkst du das? <<
Mit Überraschung entgegnete ich:
>> Ja, ich habe immer versucht, das Beste aus Allem zu machen. <<
>> Trotzdem du einen so schwierigen Start hattest, hast du immer versucht, mit Kraft und Optimismus anderen Menschen mit deinen Erfahrungen und Fähigkeiten zu helfen. <<
Nun kamen mir wirklich die Tränen und ich nickte. Er nahm meine Hände und meinte:
>> Ich erlebe dich als einen sehr einfühlsamen, tapferen und mutigen Menschen. Du kannst so stolz darauf sein, wer du bist und was du bisher erreicht hast. <<
In unserer gemeinsamen Supervisionsarbeit lernte ich, auf meine eigenen Grenzen zu achten. Walter bemerkte, dass ich mich unwohl fühlte, wenn er mit seinem Stuhl zu nah bei mir saß.
>> Ist dir der Abstand, wie wir uns gegenüber sitzen, angenehm? <<
Ich empfand unsere gegenüberstehenden Sitzgelegenheiten zu eng.
>> Mir wäre es ehrlich gesagt lieber, wenn du etwas weiter weg von mir sitzen würdest <<, entgegnete ich zaghaft.
Er rutschte mit seinem Stuhl Stück für Stück von mir weg und fragte jedes Mal, ob es so in Ordnung sei. Wir fanden unseren Abstand zueinander, mit einer für mich angenehmen Nähe zum Sprechen. Ebenso zeigte er mir, wie ich meine persönliche Abstandsgrenze am Körper wahrnehmen konnte, in dem er seine Arme ausbreitete und demonstrierte, wie sein Abstand zu anderen Menschen sei. Im dienstlichen Ablauf hatte ich zu dieser Zeit große Probleme mit distanzlosen Menschen, die mich entweder persönlich beschimpften oder zu nahe an mich heran kamen, um ihre Forderungen durchzusetzen.
>> Ich möchte dann am liebsten etwas sagen, traue mich aber nicht. Viele beschweren sich, wenn ich auf einer dienstlichen Atmosphäre bestehe. Manchmal denke ich, was für … <<
Er nahm meine Schwierigkeiten ernst, bedeutete mir aber, dass ich trotzdem freundlich auf die Wahrung einer Distanz hinweisen sollte. Zudem sei es völlig in Ordnung, wenn ich nach einem anstrengenden Kontakt meinen Ärger herauslasse. Ich dürfe auch mal ein Schimpfwort nutzen. Seine Worte und sein Verständnis halfen mir, spätere schwierige Situationen professionell zu meistern, ohne mich persönlich angegriffen zu fühlen oder ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn ich alleine im Anschluss meinem Ärger Luft gemacht hatte. Ich fühlte mich damit um vieles besser und erleichterter. Die Arbeit mit Walter gab mir letztlich die weitere Motivation und Zuversicht, dass ich genauso so bleiben wollte, wie ich war und, dass ich beruflich den richtigen Weg eingeschlagen hatte.
In meiner privaten Beziehung mit meinem Mann bestand für mich in der Hauptsache das Problem, dass ich über meine Begeisterung an allen Möglichkeiten (Hausbau, Interessen, Beruf) und mein Erleben unserer zwischenmenschlichen Beziehung „reden“ wollte. Wir schafften es jedoch nicht, uns auf gleicher Augenhöhe zu begegnen, was mich oft an mir selbst zweifeln ließ. Ich wünschte mir gemeinsame Gespräche, die tiefgehender als die banalen alltagsfunktionalen Austauschformen sein sollten. Ich suchte einen „Gleichgesinnten“, der mit mir Befindlichkeiten, Stimmungen und Emotionen so bespricht, wie ich sie erlebte. Zu dieser Zeit war ich nach wie vor der Meinung, dass alle Menschen so „ticken“, wie ich. Im Laufe der Jahre organisierten wir zwar unser Familienleben in ausgesprochen funktionaler Weise, aber mir fehlte eine zufriedene Partnerschaft. Ich bekam Depressionen und verlor den Sinn am weiteren Fortbestehen meiner Ehe. Letztlich trennten wir uns im gegenseitigen Einvernehmen und, ich zog mit meiner Tochter in eine kleine Wohnung. Mein Sohn war zu dieser Zeit bereits erwachsen und lebte nach seiner Ausbildung in einer anderen Stadt.
Da ich bis dahin im eigenen Haus gelebt hatte, empfand ich das „Abenteuer“ einer Wohnung zunächst sehr spannend. Einerseits brauchte ich mich um fast nichts zu kümmern, da die Wohnung u.a. fernbeheizt war und es einen Hausmeister für Reinigungsarbeiten gab. Anderseits jedoch lauschte ich auf jedes kleinste Geräusch über, neben oder unter mir. Ich war die unmittelbare Nähe zu mir fremden Menschen nicht mehr gewohnt. Der Wecker meiner Nachbarn am frühen Morgen klingelte wie eine Sirene in meinem Kopf, so dass ich schreckhaft aus dem Bett sprang, obwohl ich noch gar nicht aufstehen musste. Zur Schlafenszeit „störten“ mich Kratz- oder Schlaggeräusche über mir, die vermuten ließen, dass auch meine Nachbarn zu Bett gingen. Ich lag jedes Mal eine gefühlte Ewigkeit wach, ehe ich zur Ruhe kam und für ein paar Stunden schlafen konnte. Ging ich täglich durch den Hausflur, musste ich geruchsmäßig meine Nachbarn ertragen, ohne sie gesehen zu haben. Diese Belastung des miteinander Wohnens wurde für mich so unerträglich, dass ich mit meiner Tochter bereits nach kurzer Zeit zu einem Freund an den Stadtrand umzog.
In dieser Zeit begann ich ein berufsbegleitendes Studium für Sozialpädagogik und Sozialarbeit, welches ich nach 3 ½ Jahren erfolgreich abschloss. Während meines Studiums lernte ich meinen dritten Mann kennen. Wir zogen gemeinsam in eine Wohnung. Da ich meine Probleme mit mehreren Mietparteien bereits kannte, hoffte ich auf eine bessere „Verträglichkeit“ meines Befindens. Nach erneuten Wohnschwierigkeiten meinerseits entschlossen wir uns, nach Volljährigkeit und Auszug meiner Tochter, zu einem Neubau eines freistehenden Häuschens außerhalb des Stadtgebietes.
Wieder machte ich mir ein Projekt zu Eigen und gestaltete mein Zuhause nach meinen Bedürfnissen. Nach Fertigstellung trat auf einmal Ruhe in mein Leben, ich hatte keine mütterlichen Verpflichtungen mehr und demnach plötzlich neben meiner Berufstätigkeit Zeit, die mir zum Nachdenken zur Verfügung stand. Es gab keine Ablenkungen oder Projekte mehr, die mich beschäftigten. Ich war die meiste Zeit der Nachmittage allein und begann zu spüren, dass mich mein bisheriges Leben und meine anstrengende berufliche Arbeit enorme Kräfte gekostet wie auch vollends erschöpft hatte. Ich fiel in ein seelisch und körperliches „Loch“.
Durch eine Ärztin wurden mir zunächst verschiedene Medikamente verordnet, die mich ruhig stellen und mein Gedankenkarussell stoppen sollten. Die Medikamente vertrug ich jedoch nur schlecht bis gar nicht. Ich konnte kaum mehr ein- oder durchschlafen, hatte Albträume, fühlte mich am nächsten Morgen selbst nach geringsten Dosierungen völlig benommen und mein Körpergewicht steigerte sich nach jeder Tabletteneinnahme. Mir wurde daraufhin eine Psychotherapie empfohlen und angeraten. Mein Mann begrüßte diese Empfehlung, vielleicht könne ich auch meine sogenannte „Blackbox“ aufarbeiten, in die ich bisher meine unangenehmen Erfahrungen und meine wahren Befindlichkeiten verdrängte. Da ich ihn als ersten Menschen in meiner Nähe an meinen Gefühlen und Wahrnehmungen teilhaben ließ, erlebte er meine Ängste, meine Empfindlichkeiten und meine hohe Schreckhaftigkeit unmittelbar mit. Er gab mir zu verstehen, dass es für ihn manchmal nicht einfach sei. Manche Dinge empfinde er anders, aber es tue ihm leid, mit zu erleben, dass ich mit meinen Bemühungen um ein „Normalverhalten“ oft scheitere.
Die Therapie
Nach erstem Kennenlernen der Therapeutin und einer Kurzinfo meines bisherigen Lebensverlaufs, unter Hinweis meiner Schwierigkeiten, beantragten wir gemeinsam eine Traumatherapie, die mir helfen sollte. Anfangs vermutete die Therapeutin u.a. eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung, die sich jedoch in Tests nicht bestätigte. Sie stellte eine komplexe Posttraumatische Belastungsstörung fest. Der therapiebedingte Rollentausch von der Beraterin zur Patientin fiel mir schwer, so dass ich mich anfangs nicht bereit erklärte, über mich oder über meine persönlichen Befindlichkeiten zu sprechen.
Die Therapiestunden fanden in einem kleinen Büro statt. Auch hier standen wieder zwei Stühle in engem Abstand gegenüber. Da ich in der Supervision gelernt hatte, mir Raum zu verschaffen, bat ich die Therapeutin um mehr Distanz zwischen uns. Sie reagierte verwundert, kam aber meinem Wunsch entgegen. Sie achtete bei jeder nachfolgenden Sitzung auf den Sitzabstand zwischen uns und fragte oft nach, ob es so in Ordnung sei. Erst, wenn ich bejahte, begannen wir mit der Stunde.
Wir sprachen über meinen privaten Lebensweg, meine Berufstätigkeit wie auch über bisherige Erfahrungen mit Therapeuten und Ärzten. Ich erzählte, dass bei mir nach Auszug meines Sohnes vor Jahren eine ausgeprägte Angststörung festgestellt worden sei. Ich habe damals das Haus nicht mehr verlassen können und sei durch meine völlige Erschöpfung arbeitsunfähig gewesen. Aus diesem Grund seien mir für sechs Wochen eine verhaltenstherapeutische Rehabilitationsmaßnahme und für ein halbes Jahr psychotherapeutische Begleitung bewilligt worden. Die Angststörung habe ich dadurch im Wesentlichen mildern können.
>> Ich hatte damals für meine Angst- und Paniksituationen auch ein Bedarfsmedikament verordnet bekommen, welches ich immer noch nehme, wenn ich zu unruhig werde oder das Gefühl habe, mir sei alles zu viel. <<
>> Welche Ängste haben Sie denn noch, << fragte sie mich.
>> Ich habe oft Angst, meinen täglichen Anforderungen nicht gewachsen zu sein. Insbesondere, wenn ich im Berufsverkehr mit dem Auto fahren muss, reagiere ich gestresst und befürchte, dass ich die mir bekannte Strecke nicht mehr fahren kann. Ich bekomme Kopfschmerzen oder reagiere schreckhaft bei ganz normalen Verkehrsbedingungen. Manchmal sehe ich schon im Vorfeld Dinge oder Situationen, die sich ereignen könnten, wenn dichter Verkehr oder ungünstige Witterungsbedingungen bestehen. Ich habe Angst, dass etwas passieren könnte. <<
Sie fragte mich, ob ich etwas über die Hochsensibilität wisse. Da ich verneinte, entgegnete sie:
>> Ich habe den Eindruck, dass Sie über eine hohe Sensibilität verfügen, die sie zwar wahrnehmen, aber sich nicht darüber bewusst sind, um sie in ihre Befindlichkeiten einzubeziehen. Sie können störende Einflüsse weniger ausblenden, denn sie verarbeiten diese tiefer. Das führt bei Ihnen schneller zu einer Überstimulation als bei einem nicht hochsensiblen Menschen. <<
Ich reagierte abwehrend und meinte, ich sei völlig normal und mit mir sei auch alles in bester Ordnung.
>> So, wie ich Sie bis jetzt kennengelernt habe, zeigen Sie bei kleinsten Details, seien es Geräusche aus den Nebenräumen oder auch auf meine Mimik, Gestik oder Äußerung eine Reaktion, die mir zu verstehen gibt, dass sie etwas stört. <<
>> Mich stört hier nichts, alles ist so, wie es sein muss. <<
Sie beließ es dabei, da sie zu merken schien, dass ich nicht weiter darauf eingehen wollte. In den nächsten Therapiestunden entschloss ich mich, etwas mehr von mir zu berichten, da mir sonst die Zeit als sinnlos vertan erschien. Ich erzählte ihr von Problemen, die ich im Alltag wie auch in meiner Berufstätigkeit hatte.
>> Mich strengen Gespräche, die durcheinander geführt werden an. Ich schalte in kurzer Zeit einfach ab und kann nicht mehr mithalten. Das ist im privaten Bereich zwar nicht so das Problem, aber dienstlich geht das nicht. <<
>> Was machen Sie, wenn es in Ihrer beruflichen Tätigkeit dazu kommt? <<
Ich überlegte kurz.
>> Im Kontakt mit Klienten oder Angehörigen bitte ich darum, dass alle nacheinander sprechen mit der Begründung, dass ich ihre Ansichten sonst nicht verstehen und notieren könne. Da ich in der Regel bei Hilfegesprächen die Moderation übernehme, stoppe ich meistens ein Dazwischenreden der Beteiligten, wenn es mir zu viel wird. <<
>> Gut, und wie geht es Ihnen im privaten Bereich? <<
>> Da ist es schwerer, weil ich das Gefühl habe, überall mithören zu müssen. Ich kann das nicht abstellen. Ich bekomme jedes Gespräch, sei es am Nachbartisch in einem Restaurant oder im Garten bei den Nachbarn, mit. Das nervt und strengt mich an. Meistens ziehe ich mich dann zurück. <<
Mir war bis dahin nicht bewusst, dass ich doch die meisten Schwierigkeiten in meinem privaten Alltag hatte. Erst als ich davon berichtete, fielen mir noch weitere Begebenheiten und Ähnlichkeiten auf.
>> Mein Mann beschwert sich manchmal darüber, dass mich oft die sprichwörtliche Fliege an der Wand stören würde. Ich würde permanent das Verhalten anderer Menschen analysieren und Eindrücke derart intensiv verarbeiten, dass ich selbst nachts davon noch im Traum spreche. <<
Sie nickte und bat mich, weiter zu beschreiben, was mir schwerfallen würde.
>> Normale Tätigkeiten, wie ein Einkauf im Supermarkt oder ein Ausflug in Einkaufszentren werden für mich zur Herausforderung, da oft im Hintergrund Musik oder Werbung läuft und die Vielzahl der Angebote mich völlig überfordern. Ich bin jedes Mal froh und erleichtert, es hinter mich gebracht zu haben. <<
Ich holte tief Luft und traute mich weiter zu sprechen.
>> Meine Aufmerksamkeit und Konzentration wird bei vielen Informationen, bei Hektik oder einer starken Geräuschkulisse beeinträchtigt. Bei Dienstberatungen zum Beispiel sitzen manchmal bis zu 20 Menschen auf engstem Raum zusammen, reden laut oder flüstern miteinander. Wenn unsere Leiterin in schneller Abfolge Dienstanweisungen bekannt gibt, kann ich dem bereits nach wenigen Minuten nicht mehr folgen. <<
Bei diesen Eingeständnissen befürchtete ich, sie könne denken, dass ich vielleicht für meinen Job nicht geeignet sei, aber sie nickte nur.
>> Auf der anderen Seite bin ich unglaublich sensibel und treffsicher in meiner Wahrnehmung von anderen Menschen, ihren Gefühlen oder ihrer Kommunikation. Ich kann mich extrem gut in Menschen, egal welchen Alters und Geschlecht hinein versetzen und deren Motive für Handlungen oder Reaktionen erkennen. Damit habe ich absolut keine Probleme. Ebenso kann ich auch zuverlässige Prognosen über die weitere Entwicklung eines Hilfeprozesses geben. Wenn ich manchmal meine Berichte selbst nochmal durchlese, erstaunt es mich immer wieder, wie detailliert, verständlich und nachvollziehbar ich Situationen für Dritte beschreiben kann. <<
>> Bemerken Sie bei den Menschen, mit denen Sie beruflich oder auch privat zu tun haben, schnell wie sich zwischenmenschliche Beziehungen gestalten oder, ob etwas stimmig ist oder nicht? <<
Verwundert schaute ich sie an und bejahte.
>> Ja, genauso. Ich kann fast alles sofort einschätzen und sehe Zusammenhänge, die nicht sofort für andere offensichtlich sind. Mir ist das immer gleich klar, aber ich weiß nicht, warum das so ist. <<
Daraufhin fragte sie mich, ob mir das Buch „zart Besaitet“ von Georg Parlow bekannt sei. Als ich verneinte, empfahl sie es mir zum besseren Verständnis. Zu Hause surfte ich im Internet nach dem Titel. Anhand der Rezensionen steigerte sich mein Interesse und ich bestellte mir besagtes Buch. Kaum geliefert, begann ich quer zu lesen, stutzte, staunte, schmunzelte und rief in Begeisterung:
>> In diesem Buch fühle ich mich beschrieben, wie mich kaum jemand kennen kann! <<
In der nächsten Therapiestunde erzählte ich von unserem Urlaub, den wir wieder sehr individuell mit unserem Wohnmobil verbracht hatten.
>> Wir waren drei Wochen in Frankreich unterwegs. Es war sehr schön, aber für mich absolut anstrengend. Jedes Mal, wenn wir am Morgen den Übernachtungsort gewechselt haben, musste ich mich erst an die jeweiligen Begebenheiten gewöhnen. Wir haben viele Besichtigungen unternommen, sind manchmal an bis zu drei Orten gewesen, so dass ich am Abend nicht mehr wusste, wo wir am Morgen waren. Ich habe die Hälfte aller Nächte nicht schlafen können, obwohl mir das Wohnmobil vertraut ist, wir kaum an belebten Stellen gewesen sind und ich mich eigentlich im Großen und Ganzen wohl gefühlt habe. <<
>> Sie reagieren sehr empfindlich auf Reizüberflutungen, << meinte sie daraufhin und fügte ergänzend hinzu:
>> Diese unterschiedlichen Reize und Eindrücke wie auch die Ortswechsel werden von Ihnen sehr intensiv wahrgenommen, so dass es mich nicht wundert, dass Sie durch Ihre detailreiche Wahrnehmung dann Schwierigkeiten mit dem Nachklang des Erlebten haben. Daher resultieren auch mit großer Wahrscheinlichkeit Ihre Schlafstörungen. <<
Das ergab für mich Sinn und entsprach meinem Empfinden. Wir hatten uns zwar extra das Wohnmobil angeschafft, um autark sein und Menschenmassen in Urlaubsgegenden vermeiden zu können, aber nicht an meine Schwierigkeiten bei den zahlreichen Fahrt- und Übernachtungserlebnissen gedacht.
Meine Therapeutin empfahl mir in Folge bei jeder weiteren Sitzung, meine persönlichen Eindrücke zu notieren, auf Belastungsgrenzen zu achten und bei Überforderung kurze Ruhe- oder Erholungspausen einzulegen. Eine Besserung und Entlastung meines Befindens wäre bei Berücksichtigung meiner Hochempfindlichkeit vorstellbar.
>> Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen helfen, sowohl Ihre traumatische Vergangenheit als auch Ihre Hochsensibilität nicht nur als Negatives zu betrachten. <<
Sofort nach der Therapiestunde berichtete ich meinem Mann von der Einschätzung meiner Therapeutin. Das Wort der „Reizüberflutung“ wurde für mich und uns zum Schlüsselbegriff.
In diesem Zusammenhang versuchte ich meinem Mann zu erklären, dass sich mein „Leidensdruck“ vielleicht verringern könne, wenn ich achtsamer mit mir und meinen Befindlichkeiten umgehen würde. Ich erzählte ihm erstmals ehrlich von meiner ausgeprägten Wahrnehmung und meinem intensiveren Empfinden von Eindrücken. Meinen Gerechtigkeitssinn, Idealismus, Verlässlichkeit, meine Fähigkeit zur tiefen Reflexionen und Denken in großen Zusammenhängen kannte er bereits von mir. Ich denke, trotz meiner Erläuterungen bin ich nach wie vor ein Buch mit sieben Siegeln für ihn. Er versuchte zu verstehen, warum ich auf „normale“ Alltagssituationen so extrem reagierte, aber wir scheitern noch manches Mal an Kommunikationsschwierigkeiten oder an meinen Feinwahrnehmungen, die er nicht sofort nachvollziehen kann.
Seit vier Jahren arbeite ich intensiv mit meiner Therapeutin zusammen. Meist finden die Termine im 14-tägigen Rhythmus statt, in der Regel für eine Stunde. Ich habe mich daran gewöhnt, für diese begrenzte Zeit eine Patientenrolle einzunehmen. Unsere Therapiesitzungen verlaufen organisiert und mit gleichem Ablauf. Darauf kann ich mich gut einstellen, ich weiß, was mich erwartet. Die Regelmäßigkeit vermittelt mir Sicherheit. Meine Therapeutin hat schnell bemerkt, dass ich zu nichts „gezwungen“ werden möchte, ob zum Reden oder hinsichtlich gutgemeinter Ratschläge. Unsere Sitzposition verändert sich je nach meinem Befinden, mal stört es mich nicht, sie in meiner unmittelbaren Nähe zu haben, ein anderes Mal brauche ich große Distanz. Hierbei kommt es auf die zu besprechenden Themen an. Sind sie schmerzhaft für mich oder unangenehm, benötige ich mehr Raum für mich. Da wir uns mittlerweile gut genug kennen, braucht es manchmal nur einen Blick und sie verändert schnell ihre Position.
Meine Therapeutin reagiert oft gerührt, wenn ich ihr meine Wahrnehmungen „unzensiert“ mitteile. Wirkt sie müde oder erschöpft, hört sie mir nicht konzentriert zu, weil sie meinen komplexen Gedankengängen nicht folgen kann – sage ich es ihr. Auch wenn ich mich selbst – ohne Punkt und Komma – analysiere und mir dann eingestehe, wo meine Probleme liegen, zaubere ich ihr jedes Mal ein Lächeln aufs Gesicht.
Besondere Momente in unserer therapeutischen Beziehung gab es, als es relativ zu Beginn meiner Therapie völlig unerwartet zu meinem nochmaligen Suizidversuch gekommen war. Fragen und Gespräche über meine Herkunftsfamilie und ersten Ehe habe ich nicht verkraften können. Neben meiner Familie wusste aber auch meine Therapeutin, dass mich eine Einweisung in ein Krankenhaus retraumatisieren und sich dadurch mein Gesundheitszustand verschlechtern würde. Gemeinsam mit meinem Mann und meinen Kindern übernahm sie damals die erste Krisenintervention, um mich vor einem Klinikaufenthalt zu bewahren. Ich kann mich erinnern, dass sie es mit meinen Kindern so organisiert hatte, mich täglich in ihrer Praxis zu sehen. Für mich war es bewegend, mit wie viel Engagement und persönlichen Einsatz sie sich um mich kümmerte, egal ob dadurch ggf. zusätzliche Kosten entstehen. Wir vereinbarten danach, dass ich selbst entscheiden dürfe, wann, was und ob ich von meiner Vergangenheit sprechen wolle. Sie empfahl mir eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme zur Stabilisierung und organisierte die Antragstellung nebst Begründung für eine besonders geschützte Atmosphäre (Frauenstation). Bis zur Aufnahme arbeitete sie mit mir an meinem Selbstwertgefühl, welches insgesamt stark beeinträchtigt war. Sie vermittelte mir das Gefühl, das ich richtig bin, wie ich bin und ermunterte mich mehrfach, nicht an mir zu zweifeln. Im weiteren Verlauf orientierten wir uns in der Hauptsache auf meine weitere gesundheitliche Stabilität. Ich erstellte innere Landkarten zum besseren Verständnis meines Innenlebens und meiner Gefühlswelten und erarbeitete mit ihr meine Belastungsgrenzen.
In der Reha-Klinik hatte ich eine sehr eindrucksvolle Abgrenzungsübung erlernt, die ich ihr mitteilte und vorführte.
>> Wenn eine für mich anstrengende Situation absehbar ist, egal ob im privaten oder beruflichen Bereich, kann ich mich innerlich schützen. Ich stelle mir imaginär einen großen Luftballon vor, je nach meiner Befindlichkeit und der kommenden Situation in der entsprechenden Farbe. Dann steige ich mit meinen Füßen hinein und ziehe ihn mir als „unsichtbare“ Abgrenzung zum Außen über. Die Weite kann ich so bestimmen, wie mir danach ist und wie ich es brauche. Oft spüren die Menschen, dass ich mehr Distanz brauche, wenn ich mir kalte oder dunkle Farben aussuche. Ist die jeweilige Situation vorbei, ziehe ich mir den Ballon wieder ab. Ich brauche dann diesen Schutz nicht mehr. <<
Sie lachte herzlich und gab mir zu verstehen, dass sie manchmal auch so einen Ballon bräuchte und diese Übung gern für sich verwenden wolle.
Meine Therapie kam bei Versuchen, meine traumatische Vergangenheit aufdecken und bearbeiten zu wollen, an ihre Grenzen. Meine Therapeutin versuchte mit der EMDR-Technik eine Desensibilisierung zur Entlastung meiner Ängste und depressiven Gedanken. Diese Sitzungen scheiterten jedoch, da ich sofort überempfindlich reagierte (Dissoziation) und eine aktive und bewusste Mitarbeit durch mich nicht mehr möglich wurde. Ich empfand diese Sitzungen als äußerst anstrengend und war hinterher vollkommen erschöpft. Mein Körper und meine Psyche weigern sich bis heute, mehr Licht ins Dunkle bringen zu können. Nach dem Scheitern der Traumabewältigung haben wir vereinbart, dass der Therapieverlauf dazu dienen soll, mein Selbstwertgefühl weiter zu stärken und zu stabilisieren, damit ich meine Wahrnehmungen und meine Befindlichkeiten wertfrei ernst- und annehmen kann. Meine Therapeutin hat meine Schilderungen und Eindrücke noch nie in Frage gestellt, wofür ich ihr unendlich dankbar bin, denn dadurch ist sie mir eine sehr hilfreiche Begleiterin auf meinem Weg geworden.
Meine Hochsensibilität und ich
Seit meiner Therapiezeit beschäftige ich mich nun mit dem Thema der Hochsensibilität. In erster Linie war es mir wichtig zu erkennen, warum ich so bin, wie ich bin. Heute ignoriere ich meine Wahrnehmungen und Befindlichkeiten nicht mehr, sondern nehme sie ernst. Bemerke ich meine Grenzen oder fühle mich in einem Zustand der Reizüberflutung und Überstimulation, suche ich mir, ähnlich wie in Kindheitstagen intuitiv, Rückzugsgelegenheiten. Dafür habe ich mir einen eigenen Raum in unserem Haus geschaffen, der mit allem, was mir gut tut, ausgestattet ist. Wenn mich am Tag zu viele Eindrücke „übermannt“ haben, die manchmal nicht verhindert werden können und mich Einschlafprobleme belasten, ziehe ich mich aus dem gemeinsamen Schlafzimmer zurück und finde Ruhe im separaten Zimmer. Tägliche Herausforderungen habe ich nach wie vor mit meiner extremen Geräuschüberempfindlichkeit, die ich aber mit kleinen Hilfsmitteln auszutricksen versuche. In unserer Wohngegend, die zwar ruhig und am Stadtrand liegt, werden öfter handwerkliche Tätigkeiten im Freien ausgeübt. Das Sägen einer Kreis- oder Motorsäge verursacht mir regelrecht Schmerzen, auch wenn genügend Abstand besteht. Zur Minderung der Lautstärke benutze ich Kopfhörer, wenn ich im Garten sitzen möchte. Bei Sirenen von Rettungs- oder Einsatzwagen, die häufig in der Nähe meiner Tochter unweit einer großen Klinik zum Einsatz kommen, halte ich mir einfach die Ohren zu, egal wie es für Andere aussieht. Unser Haus wird nur mit Musik beschallt, wenn es mir angenehm ist. Beim Besuch von großen Einkaufsmärkten, was manchmal nicht zu verhindern ist, nehme ich mir ein paar Minuten zur Orientierung, bis ich mich an das Treiben, die Menschen und die Atmosphäre gewöhnt habe. Großeinkäufe in Supermärkten vermeide ich so weit möglich, weil mich die Vielzahl der Angebote, der bestehende Lärmpegel und die vielen Menschen überfordern. Oft gehe ich einfach in kleinere Geschäfte. Meine ausgeprägte Schreckhaftigkeit kann ich nicht ablegen oder mildern, aber ich weiß nun, warum diese besteht. Wenn ich am Abend noch zu viele Eindrücke zu verarbeiten habe und nicht zur Ruhe komme, mache ich oft kleine Beruhigungsübungen. Ich liege im Bett und „beobachte“ meine Gedanken. Mit einem Mantra „Es sind nur Gedanken,“ gehe ich auf Distanz und nehme sie lediglich wahr. Dadurch beeinflussen oder stören sie mich nicht mehr. Ist diese Übung nicht erfolgversprechend, hilft mir auch eine „Dank-Übung“. So bedanke ich mich für gewohnte Selbstverständlichkeiten, die ich in meinem Leben habe und mache mir bewusst, dass andere Menschen dies vielleicht nicht haben. Ich danke für die regelmäßige Nahrung, für mein Dach über dem Kopf, für ein warmes und sicheres Zuhause, für mein Bett, was mir allein zur Verfügung steht und für mein friedliches Umfeld, was auch nicht für alle Menschen selbstverständlich ist. Spätestens dadurch komme ich zur Ruhe und kann den Tag mit einem guten Gefühl ausklingen lassen.
Meine Hochsensibilität empfinde ich durch meine besonders ausgeprägte feine Wahrnehmungsfähigkeit und Beobachtungsgabe als sehr positiv, da ich sofort Stimmungen meiner Mitmenschen erkennen kann. Ich habe ein so feines Gespür für kleinste Nuancen im zwischenmenschlichen Bereich, dass ich kaum nachfragen muss. Ich „weiß“ es einfach. Oft erzählen mir auch Menschen nach kurzem Kennenlernen ihre Lebensgeschichte, was in meinem Beruf eine unglaubliche Entlastung bedeutet. Ich muss nicht drängen oder bohren, um wirklich Wichtiges zu erfahren. Aufgrund meiner ausgeprägten Empathie und guten Verständnisses für systemische Zusammenhänge verurteile und bewerte ich Menschen nicht, ich verstehe sie einfach. Dadurch werden mein offenes, verständnisvolles Ohr und meine achtsam formulierte Empfehlung in Lebensfragen sowohl im privaten Kreis als auch von meinen Klienten sehr geschätzt.
Natürlich kann ich mich mittlerweile soweit abgrenzen, dass nicht jeder mit seinen Problemen oder Sorgen zu mir kommt. Freundlich, aber entschieden belasse ich es manchmal auch bei schlichtem Smalltalk und habe kein schlechtes Gewissen dabei. Meine Intuition, meine Kreativität und meine Gewissenhaftigkeit nutze ich, um Entscheidungen, Vorhaben oder Pläne im guten Einvernehmen mit mir selbst, umsetzen zu können. Trotz manch hektischem Alltag habe ich gelernt, mir in stressigen Situationen Ruhe und Pausen zu gönnen. Ich glaube, dass es mir mit der Zeit immer besser gelingen wird, mich abzugrenzen und zu entscheiden, was ich aufnehmen möchte und was nicht. Ich lasse heute den Anspruch an mich los, „normal“ sein zu müssen. Ich habe mich mit mir selbst ausgesöhnt, weil diese Empfindsamkeit einfach zu mir gehört und ich mich auf meine Wahrnehmungen verlassen kann.
Im Berufsalltag habe ich als hochsensible Sozialpädagogin gerade bei der Einschätzung und Begutachtung von Menschen klare Vorteile. Ich kann meine Empathie erfolgreich einsetzen und mich auf meine Fähigkeit verlassen, um insbesondere außerhalb des gesprochenen Wortes konkrete Botschaften entschlüsseln zu können. Denn hier ist meine Hochsensibilität zugleich auch meine Stärke, Arbeitswerkzeug und Einzigartigkeit. Es tut gut, mir meine Eigenschaften und Stärken bewusst vor Augen zu führen, gerade wenn ich mit anstrengenden Arbeitsaufgaben konfrontiert werde. Mir ist es möglich, die Menschen zu „erkennen“, die tatsächlich einer Hilfe und Unterstützung bedürfen. Da ich aber ebenso Stimmung und Emotion der Menschen bemerke, die es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen, erfolgt fast jedes Mal im Kontakt ein Schmunzeln der Parteien, wenn die „Lüge“ entlarvt wird. Insgesamt erlebe ich immer wieder Menschen, die sich überfordern oder an ihren Fähigkeiten zweifeln. Ich kann sie aufgrund meiner eigenen Erfahrungen begleiten, damit sie Schritt für Schritt Entscheidendes in ihrem Leben verändern können. Oft geht es einfach nur darum, sich selbst besser zu verstehen und anzunehmen, auf sich zu achten und für sich zu sorgen, um mit den eigenen Fähigkeiten und Eigenschaften zufrieden zu werden.
In den vergangenen Jahren habe ich durch meine Therapie eine Art Entdeckungsreise zu mir selbst gemacht und bin heute dankbar für meine Besonderheiten, die ich als Hochsensible ganz selbstverständlich in mir trage. Wächst ein Kind, wie ich, in schwierigen Familien- und Lebensverhältnissen auf und/oder wird mit seinen sensiblen Eigenschaften und Wahrnehmungen ignoriert, drangsaliert, belächelt oder korrigiert, entsteht oftmals ein langer Leidensweg mit gesundheitlichen Störungen. Deshalb ist ein achtsamer und verständnisvoller Umgang so wichtig, um einen positiven Einfluss auf die Entwicklung hochsensibler Kinder zu ermöglichen. Denn, je respektierter ein hochsensibles Kind aufwachsen darf, umso selbstbewusster wird es als Erwachsener mit seinem sensiblen Potenzial leben können. Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen habe ich meine Kinder in ihren Fähigkeiten, Wahrnehmungen und Eigenarten ernstgenommen, damit sie zu den selbstbewussten Persönlichkeiten werden konnten, die sie heute sind. Meiner Tochter habe ich mein Wissen um unsere Hochsensibilität weitergegeben, so dass sie nun auch ihrem Sohn ein entsprechendes Umfeld bieten kann.